Montag, 20. November 2006

Willkommen, Mr. Bush!

Wenn unsere Oberstufenlehrer mit uns in den Medienraum gingen, um ein Video anzuschauen (was sie gerne und oft taten, weil sie dann die Stunde nicht vorbereiten mussten), das entsprechende Band aber aus irgendeinem Grund beschädigt oder verloren gegangen war, legten sie gerne als Ersatz (denn sie hatten ja nichts vorbereitet) den einzigen in der Filmsammlung der Schule vorhandenen Spielfilm ein: „Willkommen, Mr. Chance” von Hal Ashby. Im Jahr 1979 und damit gerade noch vor der endgültigen Kapitulation Hollywoods vor der Blockbustermentalität entstanden (nähere Einzelheiten siehe „Easy Riders, Raging Bulls” von Peter Biskind), handelt es sich bei „Being There”, so der Originaltitel, um eine der bösesten und anti-amerikanischsten Satiren, die je auf dem Hoheitsgebiet der Weltmacht Nr. 1 entstanden sind.

Ihr Inhalt: Mr. Chance, gespielt von einem überragenden Peter Sellers in seinem vorletzten Film, hat sein ganzes Leben als Gärtner im Haushalt einer dieser einflussreichen Hintergrundfiguren der amerikanischen Politik verbracht, die im Stillen ihre Fäden ziehen, ohne viel von sich reden zu machen. Mit bescheidener Intelligenz, aber sehr guten Manieren und exquisitem Geschmack ausgestattet, hat er das luxuriöse Anwesen seit seiner Geburt nicht verlassen und kennt von der Welt jenseits der Gartenmauern nur deren schwachen Widerschein auf dem Fernsehschirm, und außer schön klingenden, aber inhaltsleeren Gemeinplätzen über Dasein und Sosein seiner Rosenstöcke hat er seinen Mitmenschen wenig von Bedeutung mitzuteilen.

Das wäre nicht weiter schlimm, aber eines Tages - und das ist die Fabel des nach einer Novelle von Jerzy Kosinki entstandenen Films - stirbt sein Herr und Meister, und Mr. Chance sieht sich unvermittelt ohne Anstellung und den Anfeindungen des wahren Lebens ausgesetzt. Nach einigen Irrungen und Wirrungen gerät er in die Fänge der Mediengesellschaft: Da er sich distinguiert zu kleiden weiß und angenehm parliert, hält man ihn für einen Mann von Bedeutung und ihm somit Kamera und Mikrofon unter die Nase. Da er nicht so richtig versteht, was um ihn herum eigentlich vorgeht, antwortet er auf jede Frage mit so tiefsinnigen Weisheiten wie der, dass man eine Blume erst gießen müsse, bevor sie wachsen könne, und überhaupt auf jeden Winter ja immer ein Frühling folge. Da das Fernsehen und sein Publikum sympathische und naiv direkte Menschen wie ihn lieben, wird er auf diese Weise unaufhaltsam zum Star, gar zum Berater des Weißen Hauses, und am Ende des Film lässt Regisseur Ashby seinen Hauptdarsteller auf dem Wasser wandeln und entlässt uns mit der schmerzhaften Gewissheit, den Gewinner der nächsten US-Präsidentschaftswahlen vor uns zu haben.

Ich weiß nicht, ob unsere Schule vor 20 Jahren für diese Vorführungen Tantiemen an die Verwertungsgesellschaft Film und Fernsehen abgeführt hat, aber vom heutigen Standpunkt aus gesehen waren die solcherart mit „Fernsehgucken” verbummelten Schulstunden eine weit bessere Vorbereitung auf das politische Leben des beginnenden 21. Jahrhunderts als alle Lektionen über das d'Hondtsche Sitzverteilungsverfahren oder die Funktion des Bundesverfassungsgerichts. Warum ich das glaube? Schalten Sie Ihren Fernseher ein. Schauen Sie sich die Auslandsnachrichten an. Mr. Chance is alive and well und der derzeitige Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika ...!

Offenbar ist noch niemandem diese fast perfekte Übereinstimmung der Identitäten aufgefallen, dabei sticht sie ins Auge: Kaum zu übersehen die Parallelen auf den Gebieten Maßanzug und inhaltsleere Phrase (nur dass Mr. Bush seine Redensarten dem Alten Testament und nicht dem „Handbuch des Rosenzüchters” entnimmt), nicht zu leugnen der gleichermaßen unterbelichtete Intellekt, die unglaubliche Borniertheit und Naivität in Verbindung mit dem gewinnendsten Lächeln Washingtons, die völlige Fehlbesetzung als Führer des mächtigsten Landes der Erde. Dass uns statt Sellers britischer Höflichkeit texanische Cowboy-Allüren („We'll smoke them out of their holes...”) geboten werden, macht dank des medientechnischen Primats von Form über Inhalt keinen allzu großen Unterschied. Und während man Bush Juniors geistigem Vorvater, dem Großen Kommunikator „Ronbo” Reagan, immerhin noch einen standfesten und überzeugten (wenn auch albernen) Antikommunismus abnehmen konnte, besteht der wahre geistige Vollstrecker der Präsidentschaft des kalifornischen Schauspielers nur noch - wie Chance - aus einem großen, laut tönendem Nichts.

Was nicht heißen soll, dass es sich bei dem derzeitigen Amtsinhaber um einen zwar hirnlosen, aber ansonsten harmlosen Trottel handelte. Am Ende von „Being There” beschließt selbstverständlich nicht Mr. Chance selbst, dass er sich um die Präsidentschaft bewerben möchte, es sind die Kumpane seines alten Arbeitgebers, die berühmten Strippenzieher im Hintergrund, die ihm Berater zur Seite stellen und ihn finanziell unterstützen werden, weil sie erkannt haben, dass sich ein großes, laut tönendes Nichts, solange es bei den Menschen draußen im Lande gut ankommt, bestens dafür eignet, geschickt an der Öffentlichkeit vorbei die eigentliche Politik zu betreiben.

Und das wäre dann auch schon der einzige größere Unterschied zwischen dem spöttisch-sanften Zynismus des Hal-Ashby-Films und der unerbittlich harten Realität: Die Strippenzieher von Bush Junior agieren nicht etwa, wie Verschwörungstheoretiker das gerne herbeiphantasieren, in den Hinterzimmern düsterer Kaschemmen oder bei nächtlichen Geheimlogentreffen in alten Burgruinen, sondern im hellen Licht der Weltöffentlichkeit. Es handelt sich um eine Kamarilla um den Vizepräsidenten, den Verteidigungsminister, dessen Stellvertreter und diverse untere Chargen der derzeitigen amerikanischen Regierung, allesamt mit einer sogenannten „Denkfabrik” namens „Project for A New American Century” verklüngelt, die ohne Geheimnistuerei und für alle im Internet einsehbar (www.newamericancentury.org) an ihrem Plan arbeitet, die USA zum globalen Imperium klassischer Prägung mit hegemonialer Präsenz auf allen Erdteilen und einem gestaffelten System aus Verbündeten, Vasallen und bei Bedarf gewaltsam in die Schranken zu weisenden Schurkendarstellern zu machen. Wenn sie mal vollends der Hafer sticht, wie beispielsweise einige Wochen nach dem Ende des Irakkriegs bei Pentagon-Staatssekretär Wolfowitz in dem berüchtigten Interview mit „Vanity Fair”, geben Sie sogar ganz offen zu, dass sie die Öffentlichkeit über so unwesentliche Dinge wie das Vorhandensein von Massenvernichtungswaffen im Irak belügen und in Wirklichkeit ganz andere Absichten verfolgen als von den front men George W. und Colin Powell bekannt gegeben (Einsicht gefällig? Natürlich beim Pentagon selbst möglich...).

Das Problem bei der Rolle George W. Bushs dabei ist aber nicht, und in diesen Fragen greift auch ein scharfer und polemischer Kritiker wie Michael Moore wesentlich zu kurz, dass wir gerade Pech haben, weil der derzeitige amerikanische Präsident und seine finsteren Spießgesellen es zufällig geschafft haben, das Amt per Wahlbetrug und Manipulation des Obersten Gerichtshofs dem rechtmäßig gewählten Al Gore vor der Nase wegzuschnappen und jetzt dank 11. September und gewonnenem Irakkrieg unaufhaltsam auf eine zweite Amtszeit zusteuern. Das Problem ist, dass das gesamte Wahlsystem der Vereinigten Staaten, die enorm hohen für eine erfolgreiche Präsidentschaftskandidatur erforderlichen Geldsummen, das rein spendenorientierte Finanzierungssystem, der dadurch übermächtige Einfluss von Big Business auf die Auswahl der Kandidaten, die Wahlfaulheit und das politische Desinteresse eines Großteils des amerikanischen Volkes, die Konzentration auf medienwirksame Gesten und leere Phrasen, die Verlagerung des Wahlkampfs in das Paralleluniversum der Fernsehwelt und schließlich die große Varieténummer der Nominierungsparteitage in der Summe immer nur das eine bewirken: dass jedes Mal ein neuer Mr. Chance zum Präsidenten gewählt wird. Ein richtiger Politiker mit einem richtigen politischen Anliegen und unterstützt von einer richtigen politischen Partei, die richtige politische Grundsätze verträte, hätte so viele Chancen, das höchste politische Amt der USA zu bekleiden wie eine schwedische Lutheranerin, die Päpstin werden wollte. Beziehungsweise wie Ralph Nader. Diese Entwicklung hat mit dem Fernseh-Wahlduell zwischen Nixon und Kennedy 1960 begonnen und seitdem mit jedem Präsidentschaftswahlkampf an Schärfe zugenommen. Einen ersten Höhepunkt stellten in dieser Hinsicht die beiden Amtszeiten Ronald Reagans dar, einen zweiten erleben wir gerade.

Warum funktioniert das alles? Warum versammeln sich nicht erregte Bürger auf den Straßen der Hauptstadt und fordern die Köpfe der Verbrecher? Warum zeigt keiner mit dem Finger auf den nackten Kaiser, der so bräsig stolz auf einem hinkenden Gaul durch die Straßen Laramies reitet und sich für Wyatt Earp hält? Warum wird er nicht in Grund und Boden gelacht? Auch auf diese Fragen weiß „Willkommen, Mr. Chance” eine Antwort: Als Chance, der Gärtner, die Nachlassverwalter seines verstorbenen Herrn durch sein Zimmer führt, zeigt er auf seinen alten Schwarzweißfernseher und sagt versonnen „I like to watch” - „Ich seh mir gern was an”. In dieser Hinsicht sind wir alle wie Mr. Chance (wahrscheinlich mögen wir ihn deshalb so gern), wir sehen uns gerne etwas an. Wir halten die Fernbedienung in der Hand und möchten die langweiligen Filme wie die unangenehmen Dinge des Lebens am liebsten wegzappen wie ein konsternierter Peter Sellers, als er, endlich in die Freiheit entlassen, im Ghetto von Washington mit einer Straßengang aneinander gerät, die ihm nicht den Gefallen tut, sich beim Drücken auf den Ausschaltknopf in Luft aufzulösen. Wie er glauben wir, dass der Tod etwas ist, „das alten Leuten passiert”, weil wir es so auf dem Bildschirm gesehen haben. Die diesbezügliche Medienkritik aus den Siebzigern und Achtzigern mag ja selbst zur Phrase geronnen sein, weil gegen den Moloch Fernsehen einfach kein Ankommen ist, aber im Grunde genommen hat sich alles daran als haargenau zutreffende Prophezeiung erwiesen.

Und weil wir uns so gerne etwas ansehen, tun wir so wenig. Wir nehmen die Politik, wie alle „großen Dinge”, nur noch als Spiel und Inszenierung wahr (die Politik reagiert darauf, indem sie - oberflächlich gesehen - zu Spiel und Inszenierung wird) und wursteln uns ansonsten durch unser Leben, dass wir als „klein” empfinden, weil es nie so groß und aufregend ist, wie uns die Fernsehserien unserer Kindheit versprochen haben. Manchmal geschieht etwas besonders Schreckliches wie ein Krieg oder eine Naturkatastrophe, dann wachen wir kurz aus unserer wohligen Apathie auf und gruseln uns ein wenig, um dann gleich wieder in den politischen Halbschlaf zu verfallen. Nicht einmal das explodierende World Trade Center hat es geschafft, uns länger als fünf Minuten bei Bewusstsein zu halten und über das „Ende der Spaßgesellschaft” zu debattieren, deren Tanzbären und Wunderdoktoren sich im Anschluss an das Ende der allgegenwärtigen Betroffenheitstalkrunden wieder in Windeseile an allen Ecken und Kanten breit gemacht haben. Und weil das so ist, müssen die Gauner, die unsere Politik bestimmen, nicht einmal mehr lügen, um ungestört ihren finsteren Machenschaften nachzugehen. Die am besten funktionierende Diktatur ist immer noch die, in der eine Gedankenpolizei gar nicht erst nötig ist, weil sich ohnehin alle nur noch für das Liebesleben des englischen Königshauses und die Ergebnisse des letzten Formel-Eins-Rennens interessieren.

Aber wer sollte uns aus dieser tatsächlich existierenden „Matrix” befreien, wenn nicht wir selbst? Wer erinnert sich noch an die Episode auf dem Nominierungsparteitag der Demokratischen Partei 1968 in Chicago, als die Yippies, eine Gruppe aufrührerische Studenten (ja, so etwas gab es damals), ein Schwein namens „Pigasus” zum Präsidentschaftskandidaten ernannten? Die anschließenden Straßenschlachten mit der Polizei dauerten mehrere Tage, die Yippie-Führer wurden als „Chicago Seven” wegen Aufrührertum vor Gericht gebracht (und dort später freigesprochen). Ein klassisches Bespiel dafür, dass die Leute früher einmal wesentlich intelligenter waren. Solchen unverzichtbaren bürgerlichen Ungehorsam hat man heutzutage in Deutschland nicht nur vergessen, es ist bei der letzten Bundestagswahl sogar dazu gekommen, dass man die unseligen direkten Fernsehduelle der Spitzenkandidaten auch in das hiesige Wahlkampfritual mit einbezogen hat, ganz zu schweigen von der Fezzentrale namens „Kampa”, die einmal als wichtigstes Instrument der Umwandlung der bleichen Mutter SPD in einen Kandidatenwahlverein amerikanischer Prägung betrachtet werden dürfte, oder gar Robbi, Tobbi und dem Guidomobil.

Es ist an der Zeit, mit diesem Unsinn aufzuräumen. Lassen Sie uns unser Möglichstes tun, damit Mr. Chance auf der anderen Seite des Atlantiks bleibt (in England hat er schon Fuß gefasst!). Lassen Sie uns Politiker wählen, die ihn auf internationaler Ebene als den behandeln, der er ist: ein Idiot. Und lassen Sie uns unsere Freunde in Amerika bei ihren Bemühungen unterstützen, ihn endlich in seinen Garten zurückzuschicken und seine Rosenstöcke beschneiden zu lassen. Ignorieren wir in Zukunft die Fährnisse des jungen Prinzen William und übergehen wir die Frage, ob Britney Spears künstlich vergrößerte Brüste hat oder nicht, mit dem geziemenden Schweigen. Kümmern wir uns wieder um unsere eigenen Angelegenheiten. Heute ist der erste Tag vom Rest unserer Geschichte.

1 Kommentar:

Bernd Ohm hat gesagt…

Ein älterer Text (noch von vor der lezten Präsidentschaftswahl), passt aber eigentlich immer noch...