Mittwoch, 12. Dezember 2007

Der Ölknick

Wie es aussieht, haben wir nochmal für einen Moment Ruhe. Nachdem der Rohölpreis vorletzte Woche von allerlei Mediengetöse begleitet seinen bisherigen Höchststand knapp unterhalb der 100-Dollar-Marke markiert hat, pendelt er mittlerweile um 94 Dollar herum, und die ersten lehnen sich schon wieder zurück. "31 deutsche Chefvolkswirte" prophezeien auf Börse Online einen Rückgang der Ölpreise für 2008, die Internationale Energieagentur senkt praktischerweise ihre Nachfrageprognose für das laufende und das nächste Jahr, die FAZ warnt vor dem "Platzen des Preisballons", und auf Spiegel Online behauptet der Leiter des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts (HWWI), dass 100 Dollar pro Fass Rohöl geradezu ein Segen für uns wären, weil dann endlich in unkonventionelle Ölquellen wie Ölschiefer oder -sand und alternative Technik investiert würde.

Realistisch betrachtet ist allerdings sowohl die Erwartung sinkender Preise wie auch die Hoffnung auf eine blitzblanke neue Welt alternativer Energien kaum mehr als ein schöner Traum. Trotz der beinahe verzweifelten Versuche, den stetigen Ölpreisanstieg der letzten Jahre auf Spekulantentum, eine neue Welle von "Rohstoff-Nationalismus" seitens despotischer Schurken wie Putin und Chávez, den schwachen Dollar oder die unzureichenden Investition der Ölfirmen in den Ausbau ihrer Infrastruktur zurückzuführen, können sich langsam auch die Mainstream-Medien nicht mehr der Einsicht verweigern, dass die Welt es mit einem grundsätzlichen Problem zu tun hat. Der Planet ist "leergepumpt", das Angebot deckt die Nachfrage nicht mehr, und der Beweis dafür ist leicht zu führen. Seit zweieinhalb Jahren stagniert die Weltförderung von Rohöl plus Erdgaskondensat (ein flüssiger Erdgasanteil mit ölähnlichen Eigenschaften) den relativ verlässlichen Zahlen des US-Energieministeriums zufolge im Bereich 84,5 bis 85 Millionen Barrel am Tag, während gleichzeitig die Weltwirtschaft nach IWF-Angaben jedes Jahr um die fünf Prozent gewachsen ist. Dadurch hat sich eine Versorgungslücke geöffnet, die sicher im gewissen Umfang durch eine effizientere Energienutzung in den alten Industrieländern aufgefangen wurde, aber für die rasant wachsenden, energieintensiven Volkswirtschaften Asiens ist dies so gut wie ausgeschlossen, und so verwundert es kaum, dass in China vor drei Wochen Dieselrationierungen eingeführt wurden, die prompt zu Unruhen an den Tankstellen führten. Die Folgen finden sich im kleinen Einmaleins der Marktwirtschaft: Zieht weltweit die Nachfrage an, während das Angebot gleich bleibt, steigt der Preis. Spekulierende Hedge-Fonds, Möchtegern-Geostrategen und inkompetente Manager verschärfen das Problem natürlich, verursacht haben sie es nicht.

Was aber, wenn nun die Förderung nicht nur stagniert, sondern auch noch absinkt? In den USA, in Mexiko, in der Nordsee und Dutzenden anderen Ölförderregionen ist dies längst, teilweise seit Jahren, der Fall. Momentan scheinen nur noch Russland, Brasilien und einige OPEC-Staaten ihre Produktion tatsächlich steigern zu können, während eine heftige Debatte darum entbrannt ist, ob Saudi-Arabien bei der Höhe seiner verfügbaren Reserven in der Vergangenheit geschummelt hat. Diese Frage aber ist von entscheidender Bedeutung, weil wir nicht wissen, ob die arabische Halbinsel wirklich noch genügend Förderpotenzial besitzt, um das Absinken derart vieler anderer Produzenten aufzuwiegen. Seit über fünf Jahrzehnten ist bekannt, dass die Ölförderung in Regionen statistisch signifikanter Größe - von politischen Faktoren abgesehen - einer Glockenkurve folgt, die der gaußschen Normalverteilung ähnelt und einen wohldefinierten Höhepunkt besitzt, den "Peak Oil". Zuerst werden die großen, einfach zu erschließenden Felder ausgebeutet, Vorräte und Expansionsmöglichkeiten erscheinen endlos, aber irgendwann werden nicht mehr genügend neue Funde gemacht, die Felder werden kleiner, sind schwerer zu finden und zu erschließen, und schließlich schlägt die Kurve um. Danach folgt der lange, steinige Weg nach unten - der Ölknick.

Als der US-amerikanische Geophysiker M. King Hubbert dieses Modell 1956 zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentierte, wurde er wahlweise ausgelacht oder ignoriert. Als die USA fünfzehn Jahre später tatsächlich das von ihm berechnete Fördermaximum erreicht hatten, lachte niemand mehr, und Hubbert war ein gern gesehener Gast in Fernsehstudios, in denen er seine Vorhersage eines weltweiten Fördermaximums für den Zeitraum zwischen 1995 und 2000 publik machte. Gleichzeitig brachen die Ölkrisen der 1970er über die Industrienationen herein, Richard Nixon versprach den Amerikanern "Energie-Unabhängigkeit bis 1980", und Jimmy Carter schließlich ließ Solarzellen auf dem Dach des Weißen Hauses montieren und gab den "Global 2000"-Bericht in Auftrag, auch für viele Deutsche seinerzeit die Initialzündung, sich mit Umweltfragen zu beschäftigen.

Doch als 1980 Ronald Reagan zum neuen US-Präsidenten gewählt wurde, machte sich der Prediger des Freien Marktes unverzüglich daran, das Ruder wieder herumzureißen. Die Solarzellen verschwanden, Carters nach dem zweiten Ölschock 1978 durch den Kongress gebrachtes "Synfuel"-Programm wurde gekippt, und es war schließlich Reagan (und nicht etwa die Familie Bush!), der die unheilvolle Allianz Washingtons mit dem Hause Saud einging. Die Amerikaner auf ihrem Kreuzzug gegen das Böse in Moskau unterstützen die islamischen Mudschaheddin in Afghanistan mit Waffen, die Saudis halfen dafür mit Geld in Nikaragua, Angola oder Äthiopien aus. Und dazu drehten die Scheichs den Ölhahn auf, bis der Preis wieder auf ein für die USA und die Weltwirtschaft komfortables Niveau gesunken war. Dieser Pakt hielt auch in den Clinton-Jahren, und zusammen mit den neu erschlossenen riesigen Lagerstätten in Alaska und der Nordsee bescherte er der Welt vermutlich das letzte Mal zweieinhalb Dekaden der sinnlosen Verschwendung kostbarer Kohlenwasserstoffe. Gier war gut.

Als dann auch noch Hubberts Prognose eines weltweiten Fördermaximums weder 1995 noch 2000 eintrat, schien der Fall erledigt - apokalyptische Schwarzmalerei, Pseudowissenschaft. Immer wieder geisterten zwischendurch beruhigende Meldungen durch die Medien, dass wir unsere Mobilitätsbedürfnisse in Zukunft ohnehin mit Wasserstoffautos und Magnetschwebebahnen befriedigen würden, aber auf die tatsächliche Verkehrsinfrastruktur hatte das keinerlei Auswirkungen, und außer grotesk überdimensionierten Flughafen-S-Bahnen und schicken Konzeptstudien ist letztendlich nichts davon geblieben. Einziger Motor der Weltwirtschaft war und ist weiterhin das Öl, das zwar immer effizienter eingesetzt wird, aber ein wirklicher Wechsel zu anderen Energiequellen ist auch in anderen Bereichen als dem Verkehr kaum über das Stadium der Sonntagsreden hinausgekommen. Hubbert hatte außerdem seine Prognose eines Umknickens der Förderkurve bis 2000 vor dem Iran-Ölschock gemacht, der einen massiven Rückgang der Förderung bedingte und mittelfristig zumindest in den europäischen Verbraucherländern ein starkes Bewusstsein für höhere Energieeffizienz nach sich zog und damit auch - relativ zur Entwicklung des BIP - einen Rückgang bzw. eine Stagnation des Verbrauchs. Dadurch dürfte sich das Einsetzen des Ölknicks um einige Jahre verzögert haben. Die Frage lautet - wie lange?

Manche Leute sagen, jetzt wäre es soweit. Am lautesten tönt dabei seit einigen Jahren die Stimme der Association for the Study of Peak Oil (ASPO), die sich um den irischen Geologen Colin Campbell formiert hat und inzwischen Ableger auf der ganzen Welt besitzt, seit kurzem sogar in China. Mit der deutschen Sektion der ASPO eng verbunden ist die Energy Watch Group (EWG), ein von dem grünen Bundestagsabgeordneten Hans-Josef Fell initiiertes "Netzwerk von Wissenschaftlern und Parlamentariern", das vor kurzem eine unabhängige Studie über die Höhe der noch verbleibenden Ölreserven und die Entwicklung der Förderkurve bis 2030 veröffentlicht hat. Allein die Tatsache, dass das monumentale Werk nicht in Deutschland, sondern in London der Presse vorgestellt wurde, spricht Bände für den Bekanntheitsgrad des Problems hierzulande, dabei enthält der Inhalt wahren Sprengstoff: Das Maximum der weltweiten Ölförderung wäre demnach 2006 erreicht worden, und der Abfall der Förderrate in den nächsten Jahren würde weitaus steiler ausfallen als bis jetzt vermutet.

Aber das sind natürlich die üblichen Verdächtigen: Grüne, pensionierte Wissenschaftler, unabhängige Energieberater. Wer schon die Erderwärmung für eine offene Frage hält, wird diesen Mahnern und Warnern, die aufgrund der mangelnden Breitenwirkung des Themas zudem nicht auf die Ergebnisse von Tausenden wissenschaftlicher Studien verweisen können, keinen Glauben schenken. Umso gewichtiger sind dementsprechend die Worte, mit denen in den letzten Wochen mächtige Männer mit Maßanzügen und großen Dienstwagen an die Öffentlichkeit getreten sind, die scheinbar auf der anderen Seite der Barriere stehen und traditionell nicht gerade zu den Propheten der Ressourcenverknappung zählen.

Der Reigen begann mit Lord Oxburgh, dem früherem Vorstand der Shell Transport and Trading Company, der sich im September in die Höhle des Löwen wagte und auf einer ASPO-Konferenz in Irland eine Rede hielt. Bereits im Vorfeld zeigte er sich in einem Interview pessimistisch, was die zukünftige Verfügbarkeit von Öl angeht: "In gewisser Weise ist das Fördermaximum kaum von Bedeutung. [...] Das Problem ist, dass die Nachfrage fast sicher das Angebot übersteigen wird, aus welchen Gründen auch immer, und das ist es, was uns Schwierigkeiten machen wird." Dann kam Donald Paul, Vizepräsident und technischer Leiter des Ölmultis Chevron, der im Oktober bei einer Wirtschaftskonferenz die Frage nach dem Ölfördermaximum eindeutig bejahte, obwohl er einschränkte, dies bedeute "nicht die Katastrophe, die einige Leute erwarten", weil andere Arten der Treibstoffgewinnung zur Verfügung stünden.

Noch dicker kam es dann anlässlich der unlängst in London veranstalteten Oil & Money Conference 2007, auf der verschiedene Teilnehmer das Problem der mangelnden Versorgung und des Fördermaximums ansprachen. Sadad Al-Husseini, ehemaliger Vizepräsident der staatlichen saudischen Ölgesellschaft Aramco, warnte eindringlich davor, dass 300 Milliarden Barrel, beinahe 25 Prozent der weltweiten Reserven, nur "spekulative Ressourcen" seien, die man vielleicht niemals ausbeuten könne. Zuvor hatte al-Husseini in einem Interview das Potenzial Saudi-Arabiens zur kurzfristigen Erhöhung der Erdölproduktion von derzeit 9,5 auf mehr als 12,5 Millionen Barrel am Tag in Frage gestellt und einen Anstieg der Ölpreise in den Bereich um 120 Dollar innerhalb der nächsten fünf Jahre prophezeit. al-Husseini will noch nicht von einem "Maximum" sprechen, erwartet aber ein "Förderplateau" für die nächsten 15 Jahre.

Zu den Branchenexperten, die in einem vornehmen Hotel in der Londoner Park Lane ihre Ansichten zur Ölpreisentwicklung vortrugen, gehörte auch der 2006 zum "Petroleum-Manager des Jahres" gekürte Schokri Ghanem, lybischer Premierminister und Vorstand der staatlichen Ölgesellschaft des Landes. Ghanem äußerte Befürchtungen, dass die Weltförderung von Rohöl ein Niveau von 100 Millionen Barrel am Tag niemals überschreiten werde. "Der Grund dafür liegt darin, dass die Produktion in einigen Ländern absinkt, wir aber keines mehr von den Riesenfeldern finden, die wir in den 50ern und 60ern noch so oft entdeckt haben. [...] Es wird jetzt überall von der Peak-Oil-Theorie geredet," so Ghanem. "Entscheidend ist dabei weniger die Zahl der zu erreichenden Förderhöhe als das Prinzip: Die Welt kann nicht für alle Zeiten unendlich viel Öl produzieren." Christophe de Margerie, Vorstand des französischen Ölkonzerns Total, bezweifelte in London ebenfalls, dass die weltweite Ölproduktion jemals 100 Millionen Barrel am Tag übersteigen werde, und bezeichnete selbst diese Zahl als "eine optimistische Hypothese". De Margerie sieht zwar die größten Probleme bei der mangelhaften und veralteten technischen Infrastruktur der Ölindustrie, musste aber auch zugeben, dass man anderweitig Fehler gemacht habe: "Wir sind definitiv - und zwar alle von uns - zu optimistisch gewesen, was die Geologie angeht."

Beunruhigend ist daneben die Kehrtwende der Internationalen Energieagentur (IEA) in Paris, deren Chefökonom Fatih Birol in einem Interview bekannt gab, dass sich seine Organisation in Zukunft nicht mehr auf die Reservenzahlen des United States Geological Survey (USGS) verlassen werde, um seine Prognosen zur zukünftigen Ölförderung zu berechnen. Birol spricht von "Beschränkungen und Unsicherheiten", die es zu beseitigen gelte. Diese Meldung ist von enormer Bedeutung, weil die Energiebehörden oder -ministerien der Industriestaaten sich bei ihrer Arbeit in der Regel auf die Daten der IEA verlassen. Kritiker werfen dem USGS seit längerem vor, ein zu rosiges Bild der Lage zu zeichnen, und möglicherweise ist für die Zukunft eine fundamentale Neubewertung der Lage bei den Ölreserven zu erwarten.

Den Vogel allerdings schoss der amerikanische Shell-Boss John Hofmeister ab, der vor wenigen Tagen in Atlanta eine Rede hielt, die geradezu Churchill'sche Dimensionen hatte. Hofmeister warnte die Amerikaner vor einem "ökonomischen Alptraum" innerhalb der nächsten zehn Jahre und orakelte düster, die letzte zusammenhängende Energiestrategie der US-Regierung seien die Rationierungen im 2. Weltkrieg gewesen. "Was haben wir zu erwarten? Einhundert Dollar pro Barrel? [...] Welche Energiesicherheitsstrategie hat unsere Nation, um mit diesem rätselhaften zehnfachen Anstieg des Rohölpreises in weniger als einem Jahrzehnt fertig zu werden? Stellen Sie sich vor, das nächste Jahrzehnt würde einen weiteren zehnfachen Anstieg bringen." Mit alternativen Techniken sei erst langfristig zu rechnen, handeln aber müsse Amerika jetzt.

Angesichts der früheren Beschwichtigungen, Abwiegelungen und offiziellen Ableugnungen bedeuten diese Aussagen kaum etwas anderes als eine stillschweigende Anerkennung der Peak-Oil-Theorie durch die Führungsetage der Ölwirtschaft. Da wirkt es schon beinahe bizarr, dass Abdallah S. Jum'ah, Präsident von Saudi Aramco, auf dem Weltenergiekongress in Rom die kühne These aufstellte, die vorhandenen Ölreserven würden noch 100 oder 200 Jahre reichen. Nicht die Hälfte des förderbaren Öls sei bereits verbraucht, sondern höchstens sieben bis neun Prozent. Jum'ah verwendete allerdings einen Taschenspielertrick: Er bestreitet gar nicht, dass die Reserven beim so genannten "konventionellen Öl" nur noch etwa die Hälfte dessen betragen, was man in den gut 140 Jahren des Erdölzeitalters bereits aus dem Boden geholt hat, nämlich etwa eine Billion Barrel. Dazu rechnet er aber ohne große Umschweife sieben bis acht Billionen Barrel "nicht-konventionelles Öl", dass in Form von Schweröl, Tiefseebohrungen oder Ölschiefer bzw. -sänden zu gewinnen sei.

Hier aber liegt sozusagen der Ölhund begraben, den auch Professor Straubhaar vom HWWI übersieht, wenn er von den förderlichen Wirkungen des hohen Rohölpreises schwärmt, und dabei handelt es sich nicht um ein Problem von Marktbedingungen oder Investitionen, sondern um eines der Physik: Jede Art von Energiegewinnung hat einen bestimmten Effizienzgrad, der sich aus der Energiebilanz der beteiligten Prozesse errechnet. Im Englischen nennt man diesen Faktor "EROEI" (Energy Returned on Energy Invested), im Deutschen beginnt sich die Bezeichnung "Erntefaktor" durchzusetzen, die herkömmlicherweise für den energetischen Wirkungsgrad von Kraftwerken in Gebrauch ist. Der Erntefaktor spiegelt die Überlegung wider, dass zum Beispiel für die Bereitstellung eines Liters Superbenzin ein bestimmter Aufwand betrieben werden muss, um etwa die zugehörige Ölquelle zu finden, den Bohrturm herzustellen, aufzurichten und zu betreiben, das Öl zur Raffinerie zu bringen, dort in Benzin umzuwandeln und schließlich an einer Tankstelle zu verlaufen, bei der ein Werbeplakat für die Vermarktung sorgt. Für jeden dieser Schritte muss Energie aufgewendet werden, die von der ursprünglichen Energie des Öls abzuziehen ist, um die tatsächliche, für andere wirtschaftliche Aktivitäten verfügbare Nutzenergie zu erhalten. Der Erntefaktor ist das Verhältnis von Nutzenergie zu ursprünglicher Energie, und er muss größer als eins sein, damit ein energetischer Gewinn erzielt werden kann.

Es leuchtet ein, dass die Höhe des Erntefaktors auf Dauer auch eine Auswirkung auf die Kosten haben muss. Energiearten sind zwar weder in technischer noch in wirtschaftlicher Hinsicht völlig austauschbar, und auch der tatsächliche Preis pro Kilowattstunde weist je nach betrachteter Art der Nutzung beträchtliche Unterschiede auf, auch wenn man Steuern und sonstige Abgaben nicht mit einrechnet. Dennoch lässt sich grob verallgemeinern, dass ein niedrigerer Erntefaktor unabhängig von der Art der beteiligten Energien höhere Kosten nach sich zieht. Dies ist von ganz fundamentaler Bedeutung für die volkswirtschaftliche Bewertung von Methoden zur Energiegewinnung, da hierdurch nicht einfach "Barrel aus konventionellem Ölfeld" gegen "Barrel aus Ölsand" oder "Barrel aus Biodiesel" gegeneinander aufgerechnet werden kann. Für die aktuelle Förderung von Rohöl aus US-amerikanischen Quellen wurde beispielsweise ein Erntefaktor zwischen 11 und 18 errechnet, während eine Studie der Fachagentur für nachwachsende Rohstoffe für deutschen Biodiesel einen Erntefaktor von etwa 3 ergibt. Für den Erntefaktor bei der Produktion synthetischer Kohlenwasserstoffe aus Ölsand in der kanadischen Alberta-Provinz liegen keine seriösen Gesamtrechnungen vor, allerdings bringt bereits der Einsatz von Erdgas zur Erhitzung des Ölsands den Erntefaktor je nach eingesetztem Verfahren auf 4 bzw. 7, so dass insgesamt ein Wert von 3 bis 5 realistisch sein dürfte. Wie man also sieht, besteht zwischen dem konventionellen Rohöl und den Stoffen, mit denen es ersetzt werden soll, in energetischer Hinsicht ein nicht unbeträchtlicher Unterschied, der sich natürlich in den Produktionskosten niederschlägt und damit letztlich in den Aufwand, den die Weltwirtschaft insgesamt betreiben muss, um Energie zu gewinnen.

Mit anderen Worten: Wenn wir unsere derzeitige Wirtschaftsleistung aufrecht erhalten möchten, dabei aber mehr und mehr auf Energie aus unkonventionellen Ölvorkommen oder alternativen Energiequellen angewiesen sind, müssen wir die Energieeffizienz des Bruttoinlandsprodukts drastisch erhöhen und uns genau überlegen, aus welchen Quellen wir in Zukunft die Energie beziehen wollen, ohne die unsere Industriegesellschaft rasch zusammenbrechen würde - und das zusätzlich zu all den anderen Problemen wie der Erderwärmung, dem Mangel an Metallrohstoffen, dem Verlust von Biodiversität oder der Verarmung der Böden. Es reicht nicht aus, einfach nur möglichst viele Windräder oder Biogasanlagen aufzustellen und damit tendenziell anderen Bereichen der Wirtschaft Ressourcen zu entziehen, die Endverbraucher müssen mit weniger Energie auskommen, die besser genutzt werden muss, um keine massive Rezession auszulösen. Und am Ende wird uns wohl nichts anderes übrig bleiben, als auf einen Teil unserer Energienutzung schlicht und einfach zu verzichten. Diesen Epochenwandel ohne schmerzhafte Verwerfungen zu bewältigen, den Ölknick zu überleben, ist die große Aufgabe von Politik und Gesellschaft in den nächsten Jahren und Jahrzehnten.

(Zuerst veröffentlicht am 16.11.2007 in ZEIT Community)